Tanz an der Limmat

  • Zweiter Marco-Biondi-Roman
  • Genre: Krimi
  • Erscheinungsjahr: 1997
  • Verlag: Haffmans Verlag
  • Lieferbar als: Taschenbuch
  • Sprache: Deutsch
  • Seiten: 180
  • ISBN: 978-3251003679

zurück: alle Bücher

Klappentext

Privatdetektiv Marco Biondi liebt die Frauen, den Alkohol, und als Drehbuchautor ist er ständig auf der Suche nach spannenden Storys. Als ihm die schöne Sandra von ihrer vor über zwanzig Jahren verschwundenen Mutter Helen erzählt und neue Beweismittel für ihre angeblichen Ermordung vorlegen kann, macht er sich für seine Klientin auf die Spurensuche. Schon bald entdeckt er an der Zürcher Riviera im Umfeld von Bordell und Drogen jedoch ganz andere Gründe für das Verschwinden von Helen

Rezension

"Tanz an der Limmat" ist noch besser und reifer als "Zürich bei Nacht", das ist einfach sehr, sehr gut. (...) Schwer zu sagen, was ich mehr bewundere, die Ansammlung all dieser Menschen und Geschichten in einem komplexen Roman, der trotzdem als Krimi spannend bleibt und funktioniert, oder eben die Konstruktion, Roger Grafs Kunst und Sorgfalt beim Zusammenfügen zu einem Ganzen. Ein souveränes, rundes, reifes Werk.

Roberts Krimitip, Freiburg

Auszug

Kapitel 1

Der Kies knirschte unangenehm laut, als ich den Friedhof Manegg betrat. Es war ein viel zu heißer Tag im Spätsommer, die Sonne hing drohend über meinem Kopf und brannte sich in meinen Nacken. Schweißperlen bildeten sich unter meinem Hemd, flossen wie ein kleiner Bach. Ein Blick auf die Uhr sagte mir, daß ich zu spät dran war, noch später als ich es gewollt hatte. Ich war nicht oft in Wollishofe unterwegs. Ging ich früher noch ab und zu an Konzerte in der Roten Fabrik, so beschränkten sich meine Besuche im Quartier seit einiger Zeit hauptsächlich auf jene Tage an denen ich im Pflegeheim an der Paradiesstraße einen Mann besuchte, der leise vor sich hin sabbernd dem Tod entgegendämmerte. Dieser Mann war einst ein bekannter Fußballer gewesen, der es aber später im Leben zu nichts gebracht hatte. Ein Tyrann, der seinen Kindern das Leben zur Hölle machte, so sehr, daß sie sich von ihm abwandten, ihn alleine liessen, bis er eines Tages in seiner Wohnung gefunden wurde, unfähig sich zu bewegen, im eigenen Kot liegend, halbseitig gelähmt nach einem Schlaganfall. Marianne, die Tochter, war eine Zeit lang meine Freundin gewesen, sie war es, die mich dazu überredet hatte, ihren alten Vater, vor dem sie sich ekelte, ab und zu einen Besuch abzustatten. Da eine Kommunikation mit dem alten Mann nicht mehr möglich war, oder er sich weigerte, meine Versuche, mit ihm Kontakt aufzunehmen zu beachten, waren die Besuche nicht unangenehm. Ich erzählte ihm die Resultate der aktuellen Fußballmeisterschaft, redete manchmal auch über Dinge, die er nicht verstanden hätte, selbst wenn er noch hätte verstehen können. Marianne war längst verheiratet, meine Besuche wurden unregelmäßiger, doch ich brachte es nicht übers Herz, ganz damit aufzuhören, auch wenn ich mir oft genug einredete, daß das nur sentimentaler Blödsinn war. Marianne hatte seit drei Jahren nicht mehr nach ihrem Vater gefragt.

Während ich ein wenig orientierungslos auf den Kieswegen des Friedhofs herumschlurfte, dachte ich daran, daß Mariannes Vater auch eines Tages an diesem Ort beerdigt sein würde, und daß dann vielleicht Besuche am Grab für Marianne wieder denkbar würden, da der Tod immer auch der Beginn des großen Vergessens ist, und Vergebung oft nur durch Vergessen möglich ist. Ich ging an Gräberreihen vorbei, las zwischendurch Namen, die mir nichts bedeuteten und zuckte jedesmal ein wenig zusammen, wenn einer der Grabsteine enthüllte, daß weiter unten das Skelett eines Menschen lag, der weniger alt geworden war als ich, der Betrachter, der schwitzend die oft gleichlautenden Inschriften las. Meine Begeisterung für Friedhöfe hielt sich in Grenzen. Ich benötige keine Grabsteine, um mich an Menschen zu erinnern, die ich mochte und die nicht mehr sind. Als Jugendlicher machte ich mir einen kleinen Sport daraus, stundenlang Gräber abzugehen und mir Geschichten auszudenken über die Toten, wie sie lebten, wie sie starben. Absurde Geschichten oft, aber auch traurige, entsetzlich romantische, wie sie nur Jugendliche und Greise träumen können. Die Nüchternheit zürcherischer Friedhöfe lädt allerdings kaum zum Träumen ein. Deshalb bevorzugte ich in meiner Jugend Spaziergänge auf südländischen Friedhöfen, auf denen die Grabsteine mit Fotos der Toten geschmückt waren. Weiter vorne hörte ich Geräusche, ich atmete tief durch, zog mein Jackett zurecht und ging durch eine Reihe von Gräbern, die links neben dem Kiesweg lagen, weil ich mir erhoffte, von da aus einen besseren Überblick zu haben. Eine Parkbank war leer, ich setzte mich.

Drei Grabreihen vor mir standen zwei ältere Frauen, beide mit dem Rücken zu mir. Anhand der leichten Zuckungen welche den Körper der einen Frau unruhig wirken ließen, nahm ich an, daß sie weinte. Die andere Frau stützte ihr einen Arm, vermied es aber nach unten auf den Grabstein zu schauen. Sie reckte ihren Kopf nach oben, so als wolle sie die Wetterlage erkunden. Ich kramte in meiner Jackettasche nach der Todesanzeige, die keine war. Die Beerdigung wurde nur in der kleinen Spalte links außen angekündigt. Da es schon eine Weile her war, seit ich zuletzt einer Beerdigung beigewohnt hatte, rätselte ich darüber, wie lange die Prozedur dauern würde, die Begegnung mit dem Pfarrer und all den Trauernden wollte ich vermeiden, da ich selbst keine Trauer verspürte und nur Trauer das Ritual einer Beerdigung erträglich macht, denn wie jedes starr befolgte Ritual, neigen Beerdigungen dazu, für Außenstehende entsetzlich komisch zu sein. Nachdem eine weitere Viertelstunde verstrichen war, stand ich auf und suchte nach dem Schild, auf dem die Richtung zu den Erdbestattungen angezeigt wurde. Ich näherte mich langsam den frisch aufgeschütteten Gräbern mit den schlichten, provisorischen Holzkreuzen und stellte mir die Steinmetze vor, die gerade dabei waren Namen und Jahreszahlen in den Stein zu hämmern. Weiter vorne sah ich ein älteres Paar, einen Pfarrer und einen Sarg, der neben dem Erdloch aufgebahrt war. Als ich mich näherte, schauten mich sechs Augen erwartungsvoll an. Es war zu spät um umzukehren, der Pfarrer lächelte, als ich mich neben das Paar stellte, die Frau beäugte mich mißtrauisch, der Mann gähnte.

"Fangen Sie endlich an!" Die Stimme der Frau war viel zu hoch, sie piepste beinahe wie ein Singvogel. Der Mann neben ihr erschrak ob der Heftigkeit der Worte, während der Pfarrer betreten dreinschaute und nach einer kurzen Atempause seinen Text aufsagte. Er wußte offenbar nicht viel über den Toten, begnügte sich mit Allgemeinplätzen und versuchte krampfhaft würdevoll zu wirken, was absurd war angesichts der Hitze und der Lächerlichkeit der Situation, wenn er beispielsweise von der Trauergemeinde sprach und gleichzeitig der alte Mann laut in sein Taschentuch schneuzte und selbst ich befürchtete, meine Atemzüge könnten unangenehm auffallen.

"Reden Sie nicht so viel, sorgen Sie dafür, daß er begraben wird und seine Ruhe hat."
Sie trat einen Schritt vor, was der Pfarrer wohl als Bedrohung empfand. Er winkte die Friedhofangestellten herbei, die sich sogleich daran machten, den Sarg in das Erdloch abzuseilen.
"Haben Sie ihn gut gekannt?" Sie sprach leiser, doch noch immer piepste ihre Stimme, ein unangenehmer Klang, den ich nicht sehr lange ertragen hätte. Spontan überlegte ich mir, ob eine Stimme ein plausibler Scheidungsgrund sein könnte, der Mann neben ihr schien sich allerdings daran gewöhnt zu haben, er zuckte nur zusammen, wenn die Worte der Frau Befehlscharakter hatten. Ich sagte ihr, daß ich den Toten nicht gekannt hätte, was auch der Wahrheit entsprach.
"Sehr gut. Freunde hatte er nämlich genug. Falsche Freunde. Sie sehen ja, wo sie geblieben sind. Jetzt hat er nur noch mich." Ich wunderte mich darüber, daß die Frau nicht wissen wollte, weshalb ich der Beerdigung beiwohnte, doch sie war so erregt, daß sie mich kaum zu beachten schien. Sie zeigte auf den Mann neben ihr.
"Das ist Eugen. Wir sind zusammen im Heim. Ich habe ihm gesagt, daß er mitkommen soll, ich wollte nicht allein auf dem Friedhof herumstehen. Moritz war ein armer Kerl, aber er war auch selber schuld. Mich hat er auch nicht mehr besucht, hat nur noch gesoffen und gejammert." Ich nickte, Eugen war das alles sichtlich peinlich, er schaute abwechselnd auf seine viel zu große Armbanduhr und auf den Horizont, der noch immer wolkenfrei war. Er schwitze stärker als ich, nur die alte Frau schien nicht zu schwitzen, obwohl sie dickere Kleider trug als ich im Januar zu tragen pflege. "Daß es so enden mußte. Dabei hatte er alle Möglichkeiten. Mein Mann und ich haben gerackert für ihn. Mein Mann starb während der Arbeit, zwei Jahre vor der Pension, der hat sich nie etwas zu schulden kommen lassen, das war ein guter Mann."

Als sie dies sagte, zuckte Eugen zusammen, berührte ihren Arm, versuchte ihren Ellbogen festzuhalten, doch die Frau machte einen Schritt in meine Richtung, beachtete den Pfarrer nicht mehr, ein sehr junger Pfarrer, wie mir erst jetzt auffiel, der hilflos herumstand. "Da hat man einen Buben groß gezogen, bärenstark war er, ich habe dafür gesorgt, daß er jeden Tag Fleisch auf dem Teller hatte als Kind, das ist wichtig, Fleisch und Fisch, und jetzt? Ist er vor mir tot, und war doch noch so jung, hätte doch noch Chancen gehabt im Leben." Sie drehte sich zu Eugen um, dieser nickte, wagte aber noch immer nicht, etwas zu sagen. Vermutlich dachte er an das wohlige Prickeln eines kalten Biers auf der Zunge, etwas, dem auch ich nicht hätte widerstehen können. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie der junge Pfarrer wegging, kopfschüttelnd, während das Grab zugeschaufelt wurde. Die Mutter des Toten blieb neben dem Grab stehen, schaute aber in eine andere Richtung. Ich drehte mich in ihre Blickrichtung und sah, wie ein Mann, auffällig gekleidet, viel zu elegant, viel zu hell, mit einer modischen Sonnenbrille auf der Nase sich abwandte und durch das Labyrinth der Kieswege umständlich davoneilte. Die Mutter des Toten tat etwas, was Eugens Augen vor Entsetzen weit öffnete und wohl dem jungen Pfarrer eine Glaubenskrise beschert hätte, wäre er Augenzeuge der Tat geworden. Sie spuckte auf eines der noch frischen Gräber und zeigte mit gestrecktem Zeigefinger in die Richtung in die der Mann mit der Sonnenbrille verschwunden war.

"Das war sicher einer der falschen Freunde. Genau so sehen sie aus. Elegant angezogen und darunter ein Haufen Scheißdreck."
"Luisa, das ist die Beerdigung deines Sohnes", stammelte Eugen. Sie wischte den Satz mit einer energischen Handbewegung weg.
"Der Moritz hat es nicht verdient, daß wir uns hier wie Idioten benehmen. Er hatte immer eine Vorliebe für das Deftige, weshalb also soll ich mich zurückhalten? Was haben Sie hier überhaupt verloren, junger Mann?"
Ich wußte, daß die Frage noch kommen würde, und ich wußte, daß meine Antwort keine gute Antwort war.
"Mich interessiert, wer ihr Sohn war."
"Das ist typisch. Als er lebte, interessierte sich niemand für ihn. Und jetzt? Ich habe all die Artikel in den Zeitungen gelesen, sogar im Fernsehen haben sie es gezeigt, all diese Leute, die den Moritz nicht gekannt haben und jetzt so tun, als wüßten sie alles über ihn. Lassen Sie den Moritz in Ruhe. Wenn es so kommen mußte, hat das schon seine Richtigkeit."
Eugen nickte eifrig, doch die Mutter des Toten kümmerte sich nicht um sein Einverständnis. Sie zeigte in Richtung Ausgang.
"Lass uns gehen, ich habe Hunger. Das Leichenmahl gehört schließlich dazu. Möchten Sie mitkommen?" Ich schüttelte überrascht den Kopf, ich hatte keinen Hunger.
"Auch gut. Schreiben Sie etwas Gutes über meinen Sohn?" Ich schüttelte erneut den Kopf.
"Ich werde nicht über ihn schreiben. Mich interessiert sein Schicksal."
"Haben Sie nichts Gescheiteres zu tun?" Ihr Piepsen ging in ein lautes Kreischen über, so laut, daß sich Eugen einen Moment lang abwandte, er drehte den Kopf, vielleicht war er auf einem Ohr taub und bemühte sich dieses Ohr dem Kreischen zuzuwenden.
"Kann ich Sie im Altersheim besuchen?" Meine Frage malte tiefe Falten um ihren Mund, sie grinste und zeigte ein gut gefertigtes Gebiß. "Warum nicht? Hat viel zu wenig junge Männer im Heim." Eugen räusperte sich, legte einen Arm um die Schulter der Frau, so wie ich das auch bei jungen Paaren beobachtete, wenn sich der Mann der Liebe der Frau nicht sicher war.

Die Frau nannte mir ein städtisches Altersheim und zog danach ihren Eugen weg. Er schlurfte träge neben ihr her, in schwarzen Lackschuhen die an frühere Zeiten erinnerten, als er vielleicht ein eleganter Tänzer gewesen war. Ich wartete eine Weile und ging schließlich zurück zu dem frischen Grab. Keine Blumen, während gleich dahinter ein Grab kaum zu sehen war inmitten all der Kränze und Gebinde. Ich wunderte mich ein wenig darüber, daß keine Journalisten zu sehen waren, keine Neugierigen, ertappte mich sogleich dabei, mich selbst als Gaffer zu fühlen, an einer Beerdigung die mich nichts anging. Moritz Kobel stand auf dem Kreuz, ob je ein Grabstein das Holz ersetzen würde? Dieser Kobel hatte sich keine Freunde gemacht, selbst sein altes Mütterchen hatte er enttäuscht. Ich dachte an Marianne und ihren Vater, an die Trostlosigkeit einer Beerdigung bei der kaum jemand Abschied nehmen möchte, weil sich zuvor alle längst verabschiedet hatten. Die Sonne tat ihr übriges, wie ein heiteres Signal strahlte sie auf den Friedhof, Regen, dachte ich, paßt besser zu einer Beerdigung. Ich blieb noch einen Moment stehen, dachte an den Mann, der unten im Sarg lag und fragte mich, ob sie ihn präpariert hatten, ob man die Wunde zugenäht hatte, bevor man ihn einsargte. Moritz Kobel war in seiner Wohnung tot aufgefunden worden. Nackt auf dem Bett liegend, mitten in seinem eigenen Blut. Jemand hatte ihm die Kehle durchgeschnitten.

Alle Rechte beim Autor, Nachdruck und Veröffentlichung sind nicht erlaubt.